Andrej’s Vorfahren
von Jan Bereska
Das ist die Geschichte von Andrejs Vorfahren väterlicherseits. Andrejs Eltern sind Jan Bereska und Brigitte Struzyk. Jans Vater ist Henryk Bereska, seine Eltern sind Joseph und Maria Bereska. Sie sind Andrejs Urgroßeltern. Jans Mutter ist Erika Füg, geborene Kubatz, geschiedene Bereska. Ihre Eltern sind Erich und Charlotte Kubatz – Jans Großeltern mütterlicherseits, Andrejs Urgroßeltern. Innerhalb von vier Generationen sind sechzehn Vorfahren an der Existenz eines Menschen beteiligt.für Arvid und Ilva Müller
Mariajay, Jimmy und Jayke Struzyk
November 2021
Die Bereska’s stammen aus Oberschlesien, dem Ort Szopenice, nahe Katowice, dem heutigen Polen. Sie sind seit Generationen Bergleute und zwei Bahnstationen östlich der großen Metropole Kattowitz sesshaft.
Polen, und besonders Oberschlesien, sind seit dem 17. Jahrhundert den Anfeindungen seiner Nachbarländer ausgesetzt. Mit der Inbesitznahme durch die drei Invasoren Russland, Österreich und Preußen Ende des 18. Jahrhunderts wird das Polnische Königreich aufgeteilt und Oberschlesien zum „Dreiländereck“. Die Gegend ist für ihre reichen Kohle- und Erzvorräte bekannt und begehrt. Unzählige Generationen von „kleinen Leuten“ fördern hier Kohle und andere wichtige Bodenschätze. Qualmende Schornsteine, Fördertürme, Abraumhalden, Bahnanlagen und Wohnhäuser zerschneiden das Land. Überall wuchert die Kohle- und Stahlindustrie, eine krakenartige Brandlandschaft durchlöchert den Boden, während die Luft ätzend stinkt. In der Rawa, dem kleinen Fluss, der den Ort Szopinice durchfließt, baden die Menschen. (1984 rinnt dort eine dreckige, übel stinkende Brühe.)
Polen war gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte gestrichen geworden. Die drei Großmächte – Russland, Österreich, Preußen – hatten das miserabel regierte Land unter sich aufgeteilt. Mit der gewaltsamen Grenzziehung wurden die Bewohner mit einem Schlag zu Staatsbürgern anderer Länder. Ethnische Probleme, nationale Konflikte und Gebietsansprüche sind vorprogrammiert. Die Bereska’s kommen unter preußische Vorherrschaft. Polen, Deutsche, Böhmen, Juden, Zigeuner und andere Völkerschaften leben bunt miteinander, mischen ihre Gene, Erfahrungen, Sprachen und grenzen sich gleichzeitig ab. Preußen ist ein Vielvölkerreich von Königs Gnaden.
Die Bereskas sind kleine und drahtige Leute, für ihre Arbeit im Bergbau prädestiniert. Die preußische Obrigkeit teilt sie, der besseren Übersichtlichkeit halber, der Kategorie 3 einer Volksliste zu, womit darauf hingewiesen ist, dass nicht „hundertprozentig reines Germanenblut“ in ihren Adern fließt, sondern Mischblut. Mit dieser Zuordnung können die Bereskas leben. 1871, dem Jahr, als Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone aufgesetzt bekommt, werden sie brave Untertanen seiner Majestät. Es sind fleißige, tief religiöse, strebsame Menschen, die in den Zeiten der wachsenden Industrialisierung einen kleinen, sozialen Aufstieg erleben. Sie vergessen, dass ihre Vorfahren einst Polen waren. Jede neue Generation fühlt sich stärker an Deutschland gebunden, das Kaiserreich blüht wirtschaftlich auf. Der Mensch passt sich den Gegebenheiten an.
Der frühste bekannte Ahne ist Adalbert Bereska, um 1800 geboren. Er heiratet Marianne Bochenek. 1835 kommt ihr Sohn Johann Bereska zur Welt. Der heiratet später Katharina Opaschowski. Ihr Sohn Frans Bereska wird am 5.10.1866 in Roschin geboren. Frans Bereska zeugt mit Maria Cibis, einer Nichte des berühmten Malers gleichen Nachnamens, elf Kinder, neun sind Söhne. Einer, Josef Bereska, erblickt 1902 das Licht der Welt. Er ist Henryks Vater, Jan Bereska’s Großvater, Andrej’s Urgroßvater.
Maria Markowitz, Josephs Zukünftige, wird 1904 geboren. Sie erlebt eine fromme, strenge Kindheit. Die Kohleschlote qualmen, in den Gruben wird rund um die Uhr gearbeitet.
Als 1914 der 1. Weltkrieg wütet, haben Bergleute gute Karten. Sie müssen nicht an die Front. Sie beliefern den mörderischen Kampf mit den dringend benötigten Rohstoffen.
Mit vierzehn Jahren verlassen Josef und Maria jeweils die Schule. Beide nehmen die deutschen Werte tief in sich auf und wollen mit dem Polnischen nichts zu tun haben. Josef beginnt sein Arbeitsleben in der Kohlengrube. Maria Markowitz, ein hübsches, frommes Mädchen, arbeitet im Haushalt ihrer Familie und betreut nach dem Tod ihres Vaters ihre beiden jüngeren Brüder. Alles scheint gut. Doch 1918, mit der Kriegsniederlage Deutschlands, ändert sich alles. Der deutsche Kaiser tritt ab, das jahrhundertealte feudale Kastensystem bricht zusammen. Deutschland, als Kriegsverlierer, verliert weite Gebiete im Osten.
1921 wird Polen durch die Siegermächte neu in seine staatlichen Rechte und Grenzen eingesetzt. Nach über 120 Jahren entsteht ein neues nationales polnisches Gebilde. Der kleine Ort Roschin, unweit der neuen deutschen Grezne, gehört dazu und heißt jetzt Rosdzin. Es wird wieder polnisch gesprochen, polnische Geschichte gelehrt. Eine Umwertung aller bisherigen Werte findet statt. Die junge polnische Republik, die ihre nationale Identität aus ihrer langen Unterdrückung speist, ringt um ihre Existenz. Die berühmte „polnische Wirtschaft“ kommt in Schwung. Weder Josef, noch Maria, sind von den geopolitischen Veränderungen begeistert. Im Gegenteil, sie wären lieber Deutsche geblieben. Doch jetzt sind sie, notgedrungen, Bürger der Polnischen Republik.
Die Republik Polen ersteht unter vielen Schwierigkeiten, „Kinderkrankheiten“ schütteln die Nation. Nur wenige Kilometer entfernt, beginnt Deutschland, jetzt eine Republik, mit ebenso vielen Problemen behaftet. Die Welt liegt in Trümmern. Auf ihnen soll eine neue politische Ära erwachsen, das Zeitalter der Republik.
Joseph und Maria heiraten 1925 und am 17. Mai 1926 wird ihr erster Sohn Henryk geboren. Die Eltern statten den Jungen mit einer guten Konstitution, einem wachen Verstand und einem eindrucksvollen Äußeren aus. Seine Mutter stillt ihn ein Jahr.
Im November 1927 kommt Bruder Alfred zur Welt. Ein Jahr später zieht die vierköpfige Familie in eine nahe gelegene Neubausiedlung für Bergleute nach Szopienice um. In den dreistöckigen, lang gestreckten Ziegelbauten, deren rote Farbe sich im Laufe der Jahre schwarz einfärben wird, erhält die Familie Stube und Küche. Ein bescheidener Wohlstand prägt diese Zeit. Ein Wasserhahn auf dem langen Gemeinschaftsflur ist für alle Wohnparteien da. Die Toiletten, traditionelle Plumpsklos, befinden sich in den parallel zum Wohnhaus liegenden Stallgebäuden, in denen die Bewohner Ziegen, Schweine, Kaninchen und Tauben für den Eigenverbrauch halten. Jede Mietpartei erhält einen kleinen Garten auf Pacht, in dem sie Obst und Gemüse anbaut. Mutter Maria führt den Haushalt und zieht mit strenger Hand die beiden Söhne Henryk und Alfred groß. Es ist eine kleine, tief religiös gestimmte Welt. Das eine Zimmer dient der vierköpfigen Familie als Schlafstatt und gute Stube. In der angrenzenden Küche findet im Dunst der Kochmaschine das familiäre Leben statt. Die beiden Jungen drängen in die oberschlesische Welt und werden im braven Gehorsam gegenüber den Eltern und dem allmächtigen Gott erzogen. Henryk achtet die Religion, die Zucht und Geborgenheit der Katholischen Kirche. Sie und der harte Arbeitsalltag des Vaters bestimmen das Leben. Der Glauben an den Überirdischen, an die von seinem Sohn bestimmte Lebensweise, und der Wunsch, dass sich letztendlich alles zum Guten wendet und dass das Sein eine Bestimmung hat, ist der Kitt, der das harte Leben zusammenhält. Die Männer gehen zum Feierabend in die Kneipe. Die Frauen hüten die Kinder, ordnen das Heim. Saufen und arbeiten, das ist die Devise. Es werden viele Kinder gezeugt.
Henryk und Alfred besuchen den katholischen Kindergarten. Henryk agiert als Ministrant. Entgegen den offiziellen Bestimmungen halten die Eltern in den Kindern die Achtung gegenüber Deutschland wach. Sie leben zwar in Polen, doch sie fühlen sich nach wie vor als Deutsche und schauen mit Hochmut auf die polnischen Mitbürger und die schlecht funktionierende Wirtschaft. In der Familie Bereska spricht man in den dreißiger Jahren neben der polnischen die deutsche Sprache, eine verwegene Mischung aus Polnisch, Deutsch und einem ortsgebundenen schlesischen Dialekt. Henryk spielt, wie alle Gleichaltrigen, auf den umliegenden Kohlenhalden Cowboy und Indianer und erscheint schwarz bedeckt, aber glücklich, zu Hause.
Vater Josef steigt zum Lokführer auf. Er übernimmt im Dreischichtsystem die dampfende Maschine, deren Feuer nie ausgeht, um die unzähligen tonnenschweren mit Kohle beladenen Waggons immer den gleichen Weg von der Grube zum Stahlwerk zudirigieren. Er trägt Verantwortung und steht über dem zweiten Mann, der für den Druck im Kessel zu sorgen hat. Josef, nicht größer als 1 Meter 60, lenkt mit ernster Miene und in tadelloser Uniform seine kostbare Fracht über das Gelände der „Giesche-Grube“. Am Kohleplatz der Hütte lässt er abkoppeln und setzt zurück. Die Grube ist ein lebendiger Organismus. Hauer, Techniker, Angestellter, Zulieferer oder Transporteur, jeder hält auf sich. Stolz trägt der kleine Mann seine Uniform, die Mütze, die Handschuhe. Das hart verdiente Geld gibt er wöchentlich bei Maria ab.
1933 kommt Henryk in die Schule. Er erlernt das polnische Alphabet, die vielen Zischlaute. Es sind disziplinierte Jahre. Das Leben des Jungen und seiner Familie scheint vorgezeichnet, im Himmel wie auf Erden.
Die vierköpfige Familie hat ihren Platz in der polnischen Gesellschaft gefunden. Im Sommer 1939, nach Abschluss der 6. Klasse, soll der Dreizehnjährige das Gymnasium besuchen. Es soll etwas Besseres aus ihm werden. Doch dann geschieht etwas Ungeheuerliches.
Der 2. Weltkrieg
Am 1. September 1939 überfällt Hitlerdeutschland die Polnische Republik. Binnen drei Wochen wird die staatliche Ordnung Polens beiseite gefegt. Der dreizehnjährige Henryk erlebt den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Oberschlesien und heißt ihn, wie seine Eltern, gut. Einhundert deutsche Divisionen und eine gut eingeübte Luftwaffe zwingen die Polnische Republik in kurzer Zeit zu Boden. Ab Mitte des Monats rückt von Osten her die Sowjetarmee, wie im Hitler-Stalin-Pakt festgeschrieben, vor. Polen wird verabredungsgemäß unter den beiden großen Diktaturen aufgeteilt und verschwindet für die nächsten sechs Jahre von der Landkarte. Henryks Eltern weinen dem untergegangenen polnischen Staat keine Träne nach. Sie sind froh, wieder zu Deutschland zu gehören. Der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung ist ein prägendes Erlebnis für den Jungen. Zügig erfolgt der Aufbau einer neuen deutschen, faschistischen Ordnung. Die polnische Bevölkerung wird, wie vor hundert Jahren, in fünf Kategorien einer Volksliste eingeteilt.
Die Bereska’s gehören wieder der Volksliste drei an. Juden, Zigeuner und Polen haben schlechte Karten. Sie werden Opfer eines nie gekannten Vernichtungsfeldzuges. Sechs Millionen polnische Staatsbürger fallen dem Krieg und der fünfeinhalbjährigen Besatzung Deutschlands, aber auch der der Sowjetarmee, zum Opfer. Das Territorium wird dem Deutschen Reich und bis zum Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion 1941, der Sowjetunion eingegliedert. Die Menschen werden enteignet, vertrieben, versklavt, ermordet. Die Bereska’s, ehemalige Deutsche, sind von Übergriffen ausgenommen. Vater Josef arbeitet weiter in der Grube. Henryks Weg ist vorgezeichnet. Er tritt der HJ bei und wird Fähnleinführer. Fortan wird deutsch gesprochen, gedacht und gehandelt. Der Junge absolviert 1941 die 8. Klasse und leistet Landdienst in Niederschlesien. Anschließend tritt er eine Verwaltungslehre in einer Bank in Kattowitz an. Die Möglichkeiten, wie erhofft, das Gymnasium zu besuchen, sind ihm durch die neuen Umstände genommen. Dennoch beginnt für ihn ein sozialer Aufstieg. Er ist der Erste in der langen Dynastie seiner Familie, der morgens, in einen feinen Anzug gehüllt, den Weg nach Kattowitz einschlägt, um in einer Bank zu lernen, anderen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn die Geschichte ihm nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte?
Vater Josef, bald vierzig Jahre alt, hat Glück, er wird vom Armeedienst freigestellt, die Kohleförderung ist kriegswichtig. Der Familie Bereska fehlt es unter der deutschen Besatzung an nichts. Sie ist vom Krieg nicht betroffen. Keiner weiß oder will wissen, dass nur siebzig Kilometer entfernt das Vernichtungslager Auschwitz steht, aus dessen Schornsteinen Tag und Nacht Staub steigt, der Staub der vergasten und verbrannten Menschen jüdischen Glaubens.
Henryk wächst in die neue Zeit hinein, empfindet sie als normal. Seine Eltern schätzen den deutschen Imperator Adolf Hitler, der ihnen deutsche Zucht und Ordnung bringt. Während Nazi-Deutschland seine Eroberungskriege fortsetzt, interessiert sich der Heranwachsende für das Segelfliegen und beginnt bei der HJ eine Flugausbildung. Es muss wunderbar für den jungen Mann gewesen sein, durch die Lüfte Oberschlesiens zu gleiten. Diese Spezialisierung eröffnet ihm die Möglichkeit, mit achtzehn Jahren, im Mai 1944, als er zur deutschen Wehrmacht eingezogen wird, zu den Fliegern zu gehen. Die Ausbildung dauert – zu seinem Glück – ein dreiviertel Jahr. Sie wird ihm das Leben retten,
Der Krieg ist verloren, Oberschlesien ist in der Hand der Roten Armee. Der Achtzehnjährige befindet sich bei Kriegsende im verbliebenen Reichsgebiet und soll im Februar 1945 als Flieger zum Einsatz kommen, doch inzwischen existiert keine deutsche Luftwaffe mehr. So wird er im März an die Front gesandt, in die Nähe Wiens. Dort herrscht allgemeines Chaos. Tagelang werden die deutschen Truppen, das, was von ihnen übrig ist, hin-und hergeschickt. Als es eines Tages heißt, es ginge gegen die Amerikaner, meldet sich Henryk freiwillig. Als sein Trupp auf den Feind trifft, werfen die Soldaten ihre Waffen weg, heben die Arme. Der Krieg ist für Henryk beendet. Die anderen Kameraden seiner Einheit, die zurückgeblieben sind, werden von den vorrückenden Russen vollständig niedergekämpft. Henryk ist einer der wenigen des Jahrgangs 1926, der den Krieg überlebt.
Stunde Null
Mai 1945. Der neunzehnjährige Henryk ist deprimiert, schmal, hungrig. Er trägt das dunkelbraune Haar halblang nach hinten gekämmt und hockt desillusioniert in amerikanischer Gefangenschaft. Alles, was sein bisheriges Leben ausmachte, ist zerstört. Die Stunde Null hat geschlagen. Nach einem Vierteljahr wird er aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, liegt in Schutt und Asche.
Zwischen Rhein und Oder ist eine Ruinenarchitektur entstanden. Die Überlebenden hungern, sind auf der Flucht, trauern um Vermisste, Gefallene. Nackte Verzweiflung und Angst herrschen. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Das einst mächtige Land gleicht einem Sterbenden. Das Treiben des kleinen Gefreiten aus Österreich, das blutige Experiment des Nationalsozialismus, ist an seinem eigenen Wahn zugrunde gegangen.
Henryk schlägt sich nach Norddeutschland durch, arbeitet einige Monate auf einer Werft. Bei Bremen begegnet er einer einige Jahre älteren Frau, mit der er zusammen- lebt. Doch es zieht ihn zurück in seine Heimat, zu seinen Eltern. Doch die Grenzen Europas sind inzwischen neu gezogen. Oberschlesien ist von sowjetischen Truppen besetzt, laut dem Abkommen der Sieger wird Polen wieder errichtet, allerdings mit einer Verschiebung seiner Grenzen Richtung Westen. Kattowitz heißt wieder Katowice. Es wird wieder polnisch gesprochen.
Henryk überwindet illegal die neue deutsch-polnische Grenze an der Oder und kehrt mit der festen Absicht in seine Heimat zurück, das Abitur abzuschließen und ein Studium aufzunehmen. Groß ist die Wiedersehensfreude mit den Eltern und Bruder Alfred. Die Familie hat überlebt. Und Josef und Maria Bereska haben zum dritten Mal in ihrem Leben, ohne einen Fuß zu bewegen, die Nationalität gewechselt.
Auch das Wohnhaus steht noch. Doch die Situation ist schwierig, als ehemaliger deutscher Wehrmachtsangehöriger ist Henryk der neuen polnischen Obrigkeit ein Dorn im Auge. Die Staatssicherheit verlangt, dass er zukünftig Spitzeldienste leisten müsse. Doch dazu ist er nicht bereit. Er flieht wieder Richtung Westen, überquert illegal die deutsch-polnische Grenze. Mehrere Monate irrt er in Ostdeutschland umher, arbeitet hier und dort, ein Hölzchen im reißenden Fluss des Nachkriegs, bis er 1947 endlich in Ostberlin einen Platz findet und das Abitur ablegen kann.
Er findet ein Zimmer zur Untermiete in der Czarnikauer Straße und beteiligt sich an politischen Veranstaltungen.
Der junge Mann hat mit seinen einundzwanzig Jahren viel erlebt. Zwei Systemwechsel, den Krieg, die Flucht. Jetzt will er einfach nur leben. Aber in Deutschland ringen zwei unterschiedliche gesellschaftliche Systeme miteinander.
Wenden wir uns Familie Kubatz zu, den väterlichen Vorfahren meiner Mutter Erika.
Otto Georg Erdmann Kubatz, am 20.6.1875 in Krossen an der Oder geboren, das damals zu Deutschland gehörte, heute zu Polen, ist einige Jahre als Schiffsführer auf der Oder tätig, geht dann zu Beginn des neuen Jahrhunderts nach Berlin, um dort sein Glück zu suchen. Hier trifft er Friederike Busse, die am 14.12.1878 in Schlagenthin bei Genthin geboren wurde.
Otto und Friederike heiraten, 1906 kommen Sohn Erdmann und am 15.12.1908 Erich Otto Ernst auf die Welt. Familie Kubatz lässt sich in Niederschönhausen, in der Kastanienallee nieder. Man betreibt einen Laden im Prenzlauer Berg. Mutter Friederike stirbt fünfzigjährig 1928.
Erich Kubatz, der jüngere der beiden Söhne, entwickelt sich zu einem talentierten Zeichner und erhält Ende der zwanziger Jahre einen Studienplatz an der Gewerbeschule in Charlottenburg, er kommt in den Genuss eines Stipendiums, eine außerordentlich seltene Zuwendung damals.
1928 begegnet er Charlotte Seifert bei einem Tanzvergnügen in Pankow oder einem Ausflug der Wandervogelbewegung, der beide wahrscheinlich angehörten. Wir wissen es nicht. Erich ist vier Jahre jünger als Charlotte, ein gutaussehender, sportlicher und künstlerisch gebildeter junger Mann.
Erich Kubatz und Charlotte Seifert kommen sich nahe, mehr noch. Ausgerechnet im turbulenten Jahr 1929 wird Charlotte schwanger, in jenem Jahr, in der die politische und wirtschaftliche Krise Deutschlands ihren Höhepunkt erreicht. Der New Yorker Börsenkrach im Oktober löst eine gewaltige Weltwirtschaftskrise aus, Millionen Arbeitslose bevölkern die Straßen des Deutschen Reichs. Alles andere als eine gute Zeit für ein Baby. Dazu kommt, dass das Verhältnis zwischen den Liebenden unklar ist. Erich überlegt, wie er sich angesichts der Schwangerschaft verhalten soll. Er ist attraktiv, charmant, vielseitig begabt und – wahrscheinlich – nicht glücklich mit der Schwangerschaft. Erst einundzwanzigjährig, befindet er sich mitten im Studium. Ein Kind passt nicht in seine Vorstellungen. Wie auch immer, einige Wochen der Unsicherheit ziehen ins Land. Doch dann siegen Anstand und Liebe. Erich und Charlotte heiraten im Dezember 1929, nachdem Tochter Erika bereits am 9. Juli auf die Welt gekommen und den Familiennamen Seifert erhalten hatte. Sie gilt ein halbes Jahr als illegitim, damals ein außerordentlicher Makel. Im Dezember erhält sie ihren neuen Familiennamen – Kubatz.
Die Seiferts sind die mütterlichen Vorfahren meiner Mutter Erika.
Otto Friedrich Seifert, Erikas Großvater mütterlicherseits, wird am 23.8.1875 in Chemnitz geboren. Sein Vater Friedrich August Seifert, 1851 in Braunsdorf bei Flöha geboren, war Weichensteller und starb 1925 in Stollberg. Sohn Otto Friedrich besucht die 6- klassige Schule und erlernt den Beruf eines Holzpflasterers. Einige Jahre ist er in diesem Beruf in seiner Heimat tätig. Dann, um das Jahr 1900, finden wir ihn in dem kleinen brandenburgischen Dorf Dümde. Wie und warum er hier ist – sei es aus privaten oder beruflichen Gründen – wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er in dem kleinen Ort in der Nähe von Luckenwalde, die ein Jahr ältere Anna Emilie Alwine Goldmann kennen lernt, eine Dienstmagd.
Anna Goldmann, am 16.3. 1874 in Dümde geboren, wächst in ärmlichen, dörflichen Verhältnissen auf. Im Jahr 1902 trägt die Liaison Früchte. Anna ist schwanger. Das Paar heiratet im Oktober 1902 in Dümde, und im November wird Gertrude Seifert geboren, ihre erste Tochter, und zwar in Berlin. Familie Seifert zieht in die Großstadt, wie viele andere Menschen zu der Zeit und gehört zu den vielen „Rucksackberliner“, die aus Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Posen, Pommern, aus beinahe allen Landstrichen des Deutschen Reichs, nach Berlin einwandern, um am wirtschaftlichen Aufschwung teilzunehmen. Die dreiköpfige Familie wohnt zuerst in der Nähe des Alexanderplatzes, sucht in der aufstrebenden Metropole ihr privates und berufliches Glück. Otto geht seiner Arbeit als Holzpflasterer und anderen Arbeiten nach, Anna kümmert sich um das Kind, verdient mit Näherei und Wäsche etwas dazu. 1904 wird ihre zweite Tochter geboren, Charlotte. Damit ist die Familie komplett.
Um 1906 zieht die Familie nach Niederschönhausen in die Charlottenstraße. Man will den Lärm der Großstadt hinter sich lassen, will näher an die Natur heranrücken.
Die Familie profitiert vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung. Otto arbeitet fleißig, ernährt die vierköpfige Familie mit seiner Hände Arbeit. Anna Seifert widmet sich, wie damals üblich, der Kindererziehung. Schon bald erfreut man sich eines bescheidenen Wohlstands.
Die freien Sonntage und warmen Monate des Jahres verbringt die Familie im Freien, an der frischen Luft. Die beiden Töchter Gertrude und Charlotte wachsen in strenger Erziehung heran, spielen, besuchen die Volksschule in der Charlottenstraße, die 1909 eröffnet wird. Es ist eine fest gefügte Zeit, eine Zeit mit großen Aussichten.
Zeitenwende 1914
Das adlige Zeitalter, auf seinem glänzenden Höhepunkt angelangt, eilt seinem tragischen Ende entgegen. 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Otto Seifert, einer der Millionen Leidtragenden, muss, vierzigjährig, in den Krieg ziehen und kommt gesundheitlich und nervlich zerrüttet nach Hause zurück. Seine Frau Anna unternimmt in den schwierigen Zeiten alles, um die Küche am Kochen zu halten und die beiden Mädchen großzuziehen.
1918, nach dem verlorenen Krieg, ändern sich die Lebensumstände in Deutschland radikal. Der Kaiser ist gestürzt, Deutschland wird eine Republik. Das Land ist politisch zerrüttet, und es geht wirtschaftlich bergab. Drückende Kriegslasten, die einsetzende Inflation, politische Unruhen, lassen das Land taumeln und fressen den kleinen Leuten das Geld aus der Tasche. Nichts desto trotz gibt es Veränderungen.
Der Familie bietet sich die Möglichkeit, ein gerade parzelliertes Grundstück zu erwerben. Es ist 984 Quadratmeter groß und liegt in der Straße 21, an der Ecke Buchholzer Straße. Es gibt kein Wasser, kein Strom.
Man errichtet im linken, hinteren Bereich eine Holzlaube und beginnt, Stück für Stück, Grundstück und Laube für die eigenen Ansprüche herzurichten. Der Boden wird nutzbar gemacht, umgegraben, bepflanzt, gewässert, und bald genießt man die ersten bescheidenen Erträge, die der Garten abwirft.
Die Straße am nordöstlichen Ende Niederschönhausens ist ein staubiger Pfad, vor kurzem befanden sich hier Felder.
Im gleichen Jahr, 1921, wird auf Beschluss des Magistrats von Berlin eine Vielzahl der umliegenden Städte und Gemeinden der Hauptstadt eingemeindet. Damit vergrößert sich Berlin auf einen Schlag flächenmäßig um das Zwölffache und hat nun vier Millionen Einwohner, mehr als heute. Auch Niederschönhausen mit seinen knapp zwanzigtausend Einwohnern gehört als Teil des Bezirks Pankow dazu. 1925 wird die Straße 21 in Grumbkowstraße umbenannt. Von Grumbkow war ein Militär Friedrich II.
Die Zeiten sind hart. Die Bevölkerung leidet unter den Kriegsfolgen. Lebensmittel und Arbeit sind knapp. Otto Seifert geht auf die Fünfzig zu, er arbeitet als Pflasterer, wird dann, weil die Knochen nicht mehr mitmachen, Kassierer bei der AOK. Gut, dass man mit dem Grundstück über Sicherheit in unsicheren Zeiten verfügt, die verhindert, dass man in den Ruin stürzt wie viele andere. Die heranwachsenden Töchter, Gertrude und Charlotte erhalten nach Abschluss der 8. Klasse eine Stenotypistinnenausbildung und finden Arbeit.
Familie Seifert ist politisch bei der SPD angesiedelt. Man gehört zum unteren Mittelstand, der sich mehr recht als schlecht durchschlägt. Die bald zwanzigjährigen Schwestern organisieren sich in der SPD nahen Wandervogelbewegung. An den Sonntagen ziehen sie mit Freunden in die Natur, treiben Sport, singen, tanzen, diskutieren und träumen von besseren Zeiten. Das Grundstück in der Grumbkowstraße und die kleine Holzlaube dienen in den Sommermonaten als Unterkunft, in den Wintermonaten wohnt man in der Charlottenstraße. 1928 leistet sich das Ehepaar Seifert eine Reise in die Sächsische Schweiz.
Der scharf geschnittene Schatten der goldenen Zwanziger Jahre streift die Familie und die jungen Frauen. Zu der Zeit begegnet, wie bereits berichtet, Charlotte Erich Kubatz. Am 9. Juli 1929 kommt Erika zur Welt. Im Dezember heiratet das Paar.
Erika
Die junge Familie Kubatz zieht in eine Dachwohnung in der Charlottenstraße 51 in Niederschönhausen, möglicherweise die Wohnung der Eltern von Charlotte, die inzwischen in der Grumbkowstraße wohnen. Charlotte gibt ihre Sekretärinnenstelle auf und widmet sich dem Kind und der Familie. So wächst klein Erika behütet heran, lernt, mit den Händchen zu greifen, zu sitzen, zu sprechen und zu gehen. Sie ist ein süßes Baby mit kullerrunden, graugrünen Augen und einer zauberhaften Stupsnase. Schnell wird sie der Liebling ihres Vaters. Gemeinsam mit Eltern und Großeltern verbringt sie angenehme Stunden im Garten in der Grumbkowstraße.
Die Nachkriegsjahre verändern im nordöstlichen Zipfel Niederschönhausens wenig. Die Nebenstraßen sind unbefestigt, ein Gewerbegebiet entsteht zwischen Wackenberg- und Buchholzer Straße, die Wege zur Straßenbahn, zum Geschäft, zur Arbeit sind lang und beschwerlich und werden sommers wie winters zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt. Otto und Anna Seifert haben die Fünfzig überschritten. Nach wie vor dient ihnen die kleine Laube als Refugium.
Anfang der 30er Jahre spitzt sich die politische Situation Deutschlands dramatisch zu. Die Weimarer Republik wankt unter wirtschaftlichen und politischen Auflösungserscheinungen. Die Zahl der Arbeitslosen steigt auf 6 Millionen, Regierungen kommen und stürzen. Doch die kleinen Leute haben keine Zeit, sich um große Politik zu kümmern. Während sich Nationalsozialisten und Kommunisten bis aufs Blut bekämpfen, führt der Dauerkonflikt zwischen Kommunisten und Sozialdemokratie dazu, dass der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, vom greisen Feldmarschall Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird. Das Schicksal Deutschlands nimmt damit seinen schrecklichen Verlauf. Auf Fäusten, Messern und Pistolen wird das Dritte Reich begründet, die vorläufig letzte deutsche Krankheit.
Otto Seifert, inzwischen 58 Jahre alt, hat gesundheitliche und psychische Probleme. Zudem sieht er sich von seiner Frau nicht akzeptiert. Sicher ist auch, dass ihm die neue politische Richtung missfällt. Er wird wegen seiner SPD-Mitgliedschaft aus dem Dienst entlassen. Otto nimmt sich am 21.3.1933 das Leben. Seine Frau Anna findet ihn, an einem Holzbalken der Laube erhängt.
Ein Schicksalsschlag. Doch Erich und Charlotte Kubatz und die kleine Erika müssen sich über Wasser halten. Sie gehören zu den Deutschen, die glauben und hoffen, dass der Nazispuk bald vorbei wäre. Tochter Erika, inzwischen dreieinhalb Jahre alt, bekommt von den politischen Umwälzungen nichts mit. Gut versorgt von ihrer Familie, wächst sie heran, spielt im Garten von Oma Anna und führt das privilegierte Leben eines Einzelkindes.
Erich Kubatz, inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt, schließt 1934 sein Studium an der Gewerbeschule in Charlottenburg erfolgreich ab und erhält im September eine Anstellung als Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Königsberg/Ostpreußen. Das ist ein guter beruflicher Einstieg für den jungen Mann. Umgehend macht er sich auf die zwölfstündige Reise nach Königsberg, Charlotte und Erika kommen nach, sobald eine Wohnung gefunden ist.
Anna Seifert bleibt als Witwe allein auf dem Grundstück in der Grumbkowstraße zurück. Die ältere Tochter Gertrude lebt und arbeitet in Dresden als Sekretärin.
Bauliche Veränderungen in der Grumbkowstraße
1935 wird in der Grumbkowstraße 44 ein größeres, stabiles Holzhaus errichtet, 8 x 8 Meter im Quadrat, ein hübsches, gemütliches Heim für die Witwe Anna Seifert. Das Haus erhält drei Räume, Küche und Toilette. Die Außenwand besteht aus Holz. Die Entwässerung erfolgt über eine Sickergrube hinter dem Haus. Die nun sechzigjährige Anna Seifert nimmt hier ihren festen Wohnsitz. Nach wie vor liegt das Grundstück abgelegen. Pankow und das Stadtzentrum erreicht man per Straßenbahn der Linie 49, die nächste Straßenbahnhaltestelle liegt zehn Minuten zu Fuß. Die Gegend ist ruhig. Auf einigen umliegenden Grundstücken werden feste Häuser errichtet, dennoch bleibt die Straße unbefestigt, ein sandiger Naturweg, im Sommer staubig, im Winter glatt. Den Mittelteil der Grumbkowstraße, zwischen Blankenburger und Wackenbergstraße, bildet ein schmaler „schwarzer Weg“. Westlich dehnt sich eine Gärtnerei, östlich befinden sich Grundstücke mit Lauben und einigen wenigen stabilen Bauten. Am südlichen Teil, zwischen Blankenburger Straße und Schlossallee, befindet sich eine große Laubenkolonie. Zur S-Bahnstation Pankow-Heinersdorf läuft man damals wie heute etwa zwanzig Minuten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands zu stabilisieren. Programme des Autobahnbaus, der Rüstung, aber auch die Enteignungen antinazistisch eingestellter Bevölkerungsschichten und der jüdischen Bevölkerung zeigen Wirkung, der wirtschaftliche Aufschwung wird mit rigiden diktatorischen Maßnahmen gegenüber Andersdenkenden, jüdischen Mitbürgern und dem Verlust demokratischer Strukturen bezahlt. In der Zeit entsteht in der Buchholzer Straße ein großes, weitläufiges Kasernengelände. Anna Seifert lebt zurückgezogen in ihrem Häuschen. Die ältere Tochter Gertrude arbeitet in Dresden, die jüngere Charlotte lebt mit ihrer Familie in Königsberg, sodass sie die beiden Töchter selten sieht. Ein, zwei Mal im Jahr kommt Besuch aus Königsberg oder Verwandte aus Dümde. Doch Hitlers Gier ist zügellos. Nach der Besetzung der CSR und Österreichs, befiehlt er 1939 den Angriff auf Polen. Der 2. Weltkrieg beginnt.Familie Kubatz in Königsberg
In Königsberg/Ostpreußen ist die gute Zeit für Familie Kubatz nicht zu ende, als am 1. September 1939 Deutschland seinen Raubkrieg gegen Polen beginnt und es binnen drei Wochen überrennt. Ostpreußen ist wieder direkt mit dem Reich verbunden. Die Zugverbindung nach Berlin wird einfacher. Die Familie bemerkt kaum eine Veränderung in ihrem Leben. Vater Erich vermittelt den jungen Studenten weiterhin an der Gewerbeschule das Zeichnen, die Schrifttypen, die Perspektive, Geometrie. Er wird als Reserveoffizier der Wehrmacht mit Kriegsbeginn per Gesetz in die Reihen der Sicherheitspolizei eingestellt. Dies bedingt später eine Mitgliedschaft in der SS. Seine Polizeiuniform hängt im Schrank. Tochter Erika sieht ihn nur selten darin. Erich tritt nun der NSDAP bei, muss sich den Gegebenheiten beugen. Wie ein Strohfeuer vernichten die deutschen Truppen die europäische Landkarte. Frankreich, Belgien, Niederlande, Nordeuropa, Südeuropa. Die Zeit pocht im Takt der Siege. Da darf man nicht beiseite stehen. Erichs gute Beziehungen verschaffen ihm einen Posten als Kraftfahrer beim Stab der Sicherheitspolizei. Er muss gelegentlich „verreisen“. Nicht direkt an die Front. Nein, er fährt seinen Chef ins Hinterland, in die besetzten polnischen und sowjetischen Gebiete. Was tut er dort? Nimmt er als Beobachter an Erschießungen teil? Sitzt er „nur“ in seinem Fahrzeug? Macht dies einen Unterschied? Krieg ist Krieg. Er folgt eigenen grausamen Gesetzen. In der Familie spricht man nicht über Vater’s „Ausflüge“. Erich Kubatz hat sich eine Position erarbeitet, die es ihm und seiner Familie in schrecklichen Zeiten erlaubt, zu überleben, gut zu überleben. Die zwölfjährige Erika lernt in der Schule Latein und Englisch, Rassenkunde und klassische deutsche Literatur. Das Mädchen pubertiert, trägt enganliegende Kleider mit einem weißen Kragen und begehrt gegen die Mutter auf. Der Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 verändert das Leben der Familie. Sie erhält zudem Zuwachs. Roswitha, die dritte Tochter, ein Kind des Krieges, kommt hinzu. Ein kleines, zauberhaftes Wesen mit rotblonden Locken. Nun ist die Familie zu fünft. Ein Grund mehr, sich um ihre Sicherheit zu sorgen. Während die Welt brennt, geht in Königsberg alles seinen Gang. Erika spielt mit ihren Freundinnen, spaziert am Hafen, besucht das ehrwürdige Schloss. Sie liebt die romantische Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern. Am Strand der Ostssee, im Kreis der Familie, sammelt sie die geheimnisvoll in der Sonne glitzernden Bernsteine. Es sind unbeschwerte Jahre für die Heranwachsende und das soll ewig so bleiben. Eine ihrer Freundinnen ist die Tochter eines Schokoladenfabrikanten, Hersteller des feinen Königsberger Marzipans. Solche Beziehungen sind wichtig in Zeiten schlechter werdender Versorgung. Allmählich bemerkt auch Erika, dass irgendetwas etwas nicht stimmt. In der Nachbarschaft werden die jungen Männer eingezogen, und hier und da flattert die Meldung von ihrem Heldentod ins Haus.Die Zerstörung in der Grumbkowstraße
Der Krieg macht nirgendwo Halt. Auch das Grundstück in der Grumbkowstraße ist betroffen. 1943 wird Berlin, wie viele andere deutsche Städte, bombardiert. Bei einem Angriff der Alliierten fällt eine Brandbombe in das kleine Holzhaus und vernichtet es. Auch andere Grundstücke, ebenso wie ihre Besitzer, fallen dem Krieg zum Opfer. Anna Seifert hat ihre Bleibe verloren und bemüht sich um eine Entschädigung. Die Achtundsechzigjährige findet bei Verwandten in Dümde Unterschlupf. Siebzig Jahre alt, erlebt sie dort das Kriegsende, zusammen mit Tochter Charlotte und den beiden jüngeren Enkeltöchtern Christel und Roswitha. Das Häuschen in der Grumbkowstraße ist zerstört.Das Ende von Königsberg
Erika ist vierzehn Jahre alt, als sich 1943 auch in Königsberg das Bild wendet. Die Zeit der Siege ist vorüber. Königsberg wird von den Alliierten bombardiert, Altstadt und das Schloss werden zerstört. Nun weiß auch der Letzte, dass die Zeit der Heldensiege vorbei ist. Lüge, Angst und Verrat herrschen. Die Welt steht in Flammen, der schreckliche Krieg rückt näher. Die Eltern flüstern miteinander, denn die Kinder dürfen nichts von ihren Sorgen mitbekommen, schon gar nicht die Nachbarn. Dann beginnen die Evakuierungen. Erikas Klasse wird verschickt, zunächst in ein nahe gelegenes Dorf, dann ins Tschechische. Auch Mutter Charlotte kann, durch die guten Beziehungen ihres Mannes begünstigt, mit den beiden jüngeren Mädchen die Stadt verlassen. Ende 1944 zieht die Sowjetarmee den Ring um Königsberg zu. Der deutsche Stadtkommandant erklärt die Stadt zur Festung. Die deutsche Zivilbevölkerung wird als Geisel genommen. Ihr Schicksal ist besiegelt. Jetzt macht auch die Gewerbeschule in Ostpreußen dicht. Kunst ist überflüssig in den Zeiten des Untergangs. Die jungen Männer werden an der Front verheizt. Erikas Klasse befindet sich im heutigen Tschechien. Eine Kleinstadt, ein Mädchenpensionat. Dort sieht sie ihren Vater Ende 1944 ein letztes Mal. Erich Kubatz trägt die Soldatenkluft. Er ist auf der Durchreise von einem militärischen Eillehrgang und muss zurück nach Königsberg. Er bringt ihr warme Sachen, Lebensmittel und Grüße von der Mutter. Die Tochter muss versprechen, fleißig zu lernen und gut auf sich und die Familie aufzupassen. Sie ist die Älteste der drei Schwestern, trägt Verantwortung. Dann steigt der Vater in den Zug. Einige Briefe gehen hin und her. Königsberg wird von einer vielfachen sowjetischen Übermacht angegriffen. Artillerie, Katjuschas, Panzer drängen vor. Am 30. Januar 1945 zieht Erich Kubatz als Hauptmann gegen den Feind. Angesichts der Übermacht, fordert er seine Untergebenen zum Rückzug auf. Schüsse knattern. Er stürzt in den Schnee. Einer von sechzig Millionen Toten. Erich Kubatz wurde sechsunddreißig Jahre alt. Königsberg fällt im April 1945 nach blutigen Kämpfen in die Hand der Sowjetarmee. Die über siebenhundertjährige deutsche Geschichte Ostpreußens ist zu ende.Die sechzehnjährige Erika stürzt aus der heilen Welt in eine vollkommen zerstörte. Aber der Mensch kann, wie wir heute in aller Welt sehen, in Trümmern leben. In Bayern, wohin es sie verschlagen hat, wachsen sogar Blumen. Erika wird einer gut situierten Familie als Dienstmädchen zugeteilt, und die Dame des Hauses befehligt sie in guter alter Tradition. Das Mädchen muss putzen, wischen, waschen und schläft, wie es sich gehört, in einer Kammer. Es gefällt ihr dort nicht, unternehmungslustig geht sie mit einer Freundin nach München, verbringt dort einige Wochen. Es gelingt ihr, den Kontakt zu ihrer Familie herzustellen, sie erfährt, dass ihre Mutter und die beiden Schwestern leben. So macht sie sich auf den Weg nach Berlin und kommt nach einer mehrtätigen Reise durch das zerstörte Land in der Pankower Siegfriedstraße 16 bei Familie Kubatz unter. Alle sind am Leben, nur Vater Erich fehlt. Man wartet dringend auf Nachrichten aus Ostpreußen. Doch die untergegangene Nazifestung schweigt.
Das von den vier Siegermächten besetzte Deutschland ist eine einzigartige Ruinenlandschaft. Im Osten des Landes herrschen die Sowjets. Sie pfropfen dem besiegten Land ihr kommunistisches System auf. Die Betriebe werden enteignet, Naziverbrecher verfolgt, eine neue Philosophie einer klassenlosen Gesellschaft wird verbreitet. Die Macht des Staates wird, so heißt es, in die Hände der Arbeiter und Bauern gelegt. Eine elementare Umwandlung aller gesellschaftlichen Verhältnisse findet statt.
Ende 1946 bringt ein ehemaliger Soldat der Familie die Nachricht, dass Erich Kubatz im Kampf gegen die vorrückenden Russen gefallen sei. Aber die Familie hofft weiter. Niemand will sich vorstellen, dass der geliebte Vater in preußisch-russischer Erde verscharrt liegt. Zudem – es existiert kein Beweis seines Todes. Doch Erich bleibt verschollen. Erst in den sechziger Jahren lässt Charlotte Kubatz ihren Mann offiziell für Tod erklären. Für Erika und ihre beiden Schwestern bricht eine Welt zusammen. Der über alles geliebte Vater ist tot. Ein Trauma, das Erika und die beiden Schwestern lebenslänglich verfolgen wird.
Die neue Zeit
Das Leben aber geht weiter. Erika wohnt in der Siegfriedstraße 16, dem Haus der Familie Kubatz, das in den dreißiger Jahren ihr Großvater mit finanzieller Hilfe ihres Vaters Erich erbaute. Doch jetzt geht dieses Haus hälftig der Familie verloren.
Da der Großvater Otto Kubatz 1946 stirbt, vererbt er das Anwesen an seine beiden Söhne, Erdmann und Erich. Doch Erich ist nicht da. Zudem wird bekannt, dass er Mitglied der SS war. Laut Alliiertem Kontrollratsgesetz Nr. 10 werden Angehörige der SS enteignet. So geschieht es. Die Hälfte des ansehnlichen Zweifamilienhauses geht an den Staat, die Kommunale Wohnungswirtschaft, über. Erika und Gertrude dürfen, mit Billigung ihres Onkels Erdmann, weiter unter dem Dach wohnen.
Die junge Frau hat schulisch viel nachzuholen, sie besucht das Elisabeth-Christinen-Lyzeum in Niederschönhausen und legt 1948 das Abitur ab. Am Horizont zeichnet sich eine neue Zeit ab. 1949 wird die BRD, dann die DDR gegründet. Die zwanzigjährige Erika begeistert sich für die Vorstellungen einer sozialistischen Gesellschaft. Überall im Land herrscht Aufbruchstimmung, wie sie wohl nur nach einem Krieg herrschen kann. Erika nimmt ein Studium an der Humboldt-Universität auf, belegt die Fächer Sport und Musik. Bewusst folgt sie dem Vater in seiner Leidenschaft, sie möchte Lehrerin werden und mithelfen, eine neue Generation zu erziehen. Die junge, hübsche Frau verdreht den jungen Männern den Kopf. Sie wünscht sich einen Freund, aber er muss gebildet, sollte Künstler sein, ein Mann eben, mit den guten Eigenschaften ihres Vaters. Er ist bereits da. Henryk Bereska.
Berlin
1948 nimmt Henryk Bereska ein Studium an der Humboldt-Universität in Berlin auf. Die Studienwahl liegt nahe. Germanistik und Slawistik umschließen seinen bisherigen Erfahrungshintergrund, er ist zweisprachig aufgewachsen. An der Universität trifft er hervorragende Lehrer. Hans Meyer und Ernst Niekisch geben ihr Wissen an die vom Krieg zerrüttete Generation weiter.
Henryk taucht in die Geisteswelt der deutschen Klassik, der russischen Realisten ein. Die Welt der Literatur wird ihn zeitlebens nicht mehr loslassen. Er sympathisiert mit den Vorstellungen einer kommunistisch geprägten Gesellschaft. Der Gedanke an ein Leben unter freien, gleichberechtigten Menschen, die sich den Besitz teilen und für Frieden eintreten, begeistert ihn.
Der schrecklichste aller Kriege, die Millionen Opfer, verpflichten, diesen kostbaren Gedanken in die Tat umzusetzen. Er rechnet, angeregt durch die humanistische Ausbildung, mit dem Nazisystem ab, schämt sich der Verbrechen des untergegangenen Systems, auch, auf seine Weise daran beteiligt gewesen zu sein und hofft, wie viele Gleichaltrige, auf eine neue Zeit, befreit von den Fesseln des Privateigentums, auf eine Epoche des Glücks und des Friedens.
Der neue Führer im Osten heißt Generalissimus Stalin. Der „weise“ Stratege hat nicht nur den Krieg gegen Deutschland gewonnen. Er weist jetzt den Weg in die Zukunft. Henryk nimmt an politischen Veranstaltungen teil und singt mit russischen Soldaten Volkslieder. Auf den zerstörten Straßen Ostberlins prangt das Bild des neuen Führers aus dem Osten.
Henryk wird Mitglied der Freien Deutschen Jugend, einer Vereinigung junger Menschen, die ein friedliebendes, antifaschistisches Deutschland aufbauen will. Das blaue Hemd umschließt seine schlanke Silhouette wie eine Uniform. Er hat einen Studienplatz und ein Zimmer in der Czarnikauer Straße im Prenzlauer Berg zur Untermiete. Doch bald hält er sich aus den komplizierter werdenden politischen Diskussionen heraus und widmet sich der Literatur, der Kunst. Politik ist nichts für ihn. Er hat ihren verheerenden Einfluss begriffen. Jetzt hat er nur noch einen Wunsch. Er sehnt sich nach der Geborgenheit einer Familie. Er will endlich in einem neuen Zuhause ankommen.
Eine neue Familie
Im Jahr 1950 begegnet Henryk Erika Kubatz an der Humboldt-Universität. Er wirft ein Auge auf die junge, hübsche Frau, und sie erwidert sein Interesse. Er spricht sie an. Die jungen Leute lernen sich kennen, fassen Vertrauen zueinander. Eine geraume Zeit ist man „brav“, so wie das damals üblich ist. Auch Mutter Charlotte Kubatz, die mit den jüngeren Schwestern Erikas inzwischen in Velten bei Berlin lebt, lernt den jungen Mann kennen.
Dann geht alles sehr schnell. Zu Beginn 1951 wird Erika schwanger. Für das junge Paar ein ungünstiger Zeitpunkt, beide befinden sich mitten im Studium. Erika ist einundzwanzig, die Wohnsituation ist schlecht. Eine Weile überlegt man, ob das Kind kommen soll. Schließlich entscheidet sich Erika für das Kind. Am 7. Mai 1951 heiraten sie. Henryk und Erika Bereska.
Henryk und Erika ziehen zusammen. Im Sommer schließt Erika ihr Studium mit der Hauptprüfung ab. Ab September wird sie, da ihr noch die Schwimmprüfung fehlt, als Assistenzlehrerin für Sport an der Humboldt-Universität angestellt. Sie tritt ihren Schwangerschaftsurlaub an.
Im August stirbt Anna Seifert, die Erstbesiedlerin des Grundstücks in der Grumbkowstraße, siebenundsiebzigjährig. Sie wird auf dem Friedhof am Bürgerpark, wo auch ihr Mann ruht, beerdigt. Das Haus in der Grumbkowstraße ist zerstört und unbewohnbar. Die junge Familie Bereska wohnt in der Siegfriedstraße 16.
Am 31. Oktober wird Sohn Jan geboren.
Nach dem gesetzlichen zwölfwöchigen Schwangerschaftsurlaub wird Jan in einer Wochenkrippe aufwachsen. Erika tritt am 18. Januar 1952 ihren Dienst als Sportlehrerin an.
Henryk beschließt sein Studium im Sommer 1952 als diplomierter Slawist und Germanist. Einige Monate ist er ohne Arbeit, dann erhält er eine Stelle als Lektor im Aufbau-Verlag.
Die Zeiten sind schwierig. Es fehlt an Lebensmitteln, Kleidung, Heizstoffen – an allem, dennoch herrscht ein großer Optimismus und Wille, die eigene Lebenssituation zu verbessern.
Der Wiederaufbau
1955 gibt Henryk seine feste Lektorenstelle auf und wird freischaffender Übersetzer aus dem Polnischen. Erika übt mit großem Enthusiasmus ihren Lehrberuf an HU aus, viel Zeit geht für ehrenamtliche Arbeit drauf, Weiterbildungslehrgänge, Sportfeste. Der kleine Jan kommt nach einem halbjährigen Aufenthalt in einer Wochenkrippe Ende 1952 in eine Tageskrippe und mit drei Jahren in den Kindergarten.
1955, zehn Jahre nach dem Krieg, liegt das Grundstück in der Grumbkowstraße 44 immer noch verwaist. Fremde werfen bereits begehrliche Blicke darauf. Jetzt beginnt Charlotte Kubatz, inzwischen einundfünfzig Jahre alt, gemeinsam mit Henryk und Erika und den inzwischen beinahe erwachsenen gewordenen Töchtern Christel und Roswitha, mit dem Wiederaufbau des Hauses. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage und fehlender Materialien wird auf dem vorhandenen Fundament eine Holzkonstruktion und eine halbe steinerne Außenwand, sowie ein neuer Dachstuhl errichtet. Das Häuschen hat drei Zimmer, eine Küche, ein Bad mit Toilette. Ende des Jahres kann die Familie Bereska dort einziehen. Besitzerin ist bleibt weiter Charlotte, die in Velten lebt und in einem Holzbetrieb als Finanzsachbearbeitern tätig ist. Henryk bringt als Übersetzer nicht viel Geld nach Hause. Erikas Einkommen als Lehrerin beträgt in den ersten Arbeitsjahren um die 400,- Mark. Irgendwie schlägt man sich durch. Der Garten wird zum Treffpunkt der gesamten Familie. In den Sommermonaten kommen Erikas Schwestern Christel und Roswitha zu Besuch, ebenso sind Henryks Freunde und Kollegen hier. Gerade für den fünfjährigen Jan bieten der Garten, die Straße und die umliegenden Gärten ein wunderbares Eldorado zum Spielen. Auf der Wiese hinter dem Haus treiben Erika und ihre Schwestern Sport. Gemeinsame Spiele werden veranstaltet. Auch Charlotte Kubatz kommt regelmäßig an den Wochenenden, kümmert sich um den Garten, die Erdbeeren, die Sträucher und Obstbäume.
Viele umliegende Grundstücke stehen – kriegsbedingt – frei, Zäune fehlen. Der Krieg hat eine gesamte Generation weggerissen. Die Gegend ist ein Paradies für das heranwachsende Kind und seine Freunde. Die Straße, ein breiter, staubiger Weg, auf dem die Kinder Fußball, Murmeln, Federball spielen. Wilde Radrennen in die angrenzende Postsiedlung finden im Sommer statt. Es herrscht eine freie, ungebundene Atmosphäre.
Krisenzeiten
Bald erschüttern Probleme die Ehe der Bereskas. Erika zieht 1958 nach Leipzig, um an der Deutschen Hochschule für Körperkultur als Dozentin tätig zu werden. Der siebenjährige Jan folgt im Februar 1959 nach. Henryk lebt nun allein in der Grumbkowstraße 44. Er ist in die Ostberliner Künstlerszene eingebunden, ist viel unterwegs. Sein Arbeitsraum im Häuschen steht voller Bücher. Er nimmt am kulturellen Leben der Stadt teil, sein Freundeskreis sind Intellektuelle, Schriftsteller, Übersetzer, Maler.
Auf dem Grundstück links zieht 1956 Familie Brömme ein. Der Mann ist Bäcker. Das rechtsseitige Grundstück wird erst in den sechziger Jahren bewohnt. Zu beiden Familien herrscht ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis.
Während Erika und Jan in Leipzig sind, lebt und arbeitet Henryk in Berlin, gleichzeitig nimmt die politische Teilung Deutschlands konkrete Gestalt an. 1961 trennt die Staatsführung der DDR mit dem Mauerbau die beiden deutschen Staaten mit einer Grenze. Stacheldraht und Schießbefehl sollen die Flucht weiterer hunderttausender DDR-Bürger in das Wohlstandsland BRD beenden. Nach einer Zeit der Verunsicherung beginnt für die DDR eine Zeit der relativen Stabilisierung.
1962 kehren Erika und Jan aus Leipzig nach Berlin zurück. Die beruflichen Vorstellungen Erikas haben sich nicht erfüllt, auch das private Glück bleibt weiterhin aus. Doch die Familie ist wieder zusammen. Erika tritt eine Stelle als Sportlehrerin an einer Pankower Grundschule an. Ihr gesundheitlicher Zustand ist angegriffen. Die Gemeinsamkeiten des Ehepaars sind aufgebraucht, 1964 wird die Ehe geschieden.
Erika und Jan leben zu zweit auf dem Grundstück. Jan besucht von 1962 bis 1968 die Wilhelm-Pieck-Oberschule in der Kissingenstraße, eine Schule mit erweitertem Russischunterricht. Er fährt jeden Tag mit dem Fahrrad in die Schule.
1964 schafft sich die Familie, mit Unterstützung von Oma Charlotte, den ersten Fernseher an. Nach wie vor dient das Grundstück als Treffpunkt der Familie. Die inzwischen zweiundsechzigjährige Gertrude Seifert, im Parteiapparat der SED tätig, und Charlotte, ebenfalls in der SED, sind oft zu Besuch. Christel Kubatz, die mittlere Schwester Erikas, ist mit Waldo Jasch verheiratet, einem Übersetzer. Christel studiert Sportwissenschaften in Leipzig und wird später Schwimmlehrerin. Roswitha, die jüngste der drei Schwestern, heiratet Achim Bittrich, einen Ingenieur im VEB KWO Schöneweide, wo sie ebenfalls als Ingenieurin arbeitet. Sie bekommen zwei Kinder. Gaby wird 1963 und Ralph 1964 geboren.
1966 überschreibt Charlotte Kubatz das Grundstück auf Erika Bereska. Die jüngeren Schwestern sind mit dieser Entscheidung einverstanden und werden mit einem bescheidenen Geldbetrag abgefunden. Das Grundstück ist zu der Zeit ca. 3000 DM wert.
Niemand denkt daran, diesen Vorgang zu feiern. Zu groß sind die Sorgen und täglichen Probleme. Erika hat das Fehlschlagen ihrer Ehe und neue berufliche Sorgen zu verkraften. Auch der vierzehnjährige Jan bleibt von der Trennung seiner Eltern nicht unberührt. Für die Schönheiten des Gartens und der Umgebung bleibt wenig Zeit. Erika, als auch Jan, fahren täglich mit dem Fahrrad. Größere Einkäufe erledigt man in Pankow, die kleineren in einem Laden in der Postsiedlung. Im Winter müssen vier Öfen geheizt werden. Ohne Mann ist das nicht einfach. 1966 lernt Erika den zwei Jahre jüngeren Chemiker Bernhard Stemminger kennen, der bald darauf in das Häuschen einzieht.
Das Jahr 1968 mit seinen großen politischen Bewegungen – der Studentenbewegung in Westeuropa, dem Prager Frühling und seiner Niederschlagung durch sowjetische Truppen – markiert einen Einschnitt in die europäische Nachkriegsgeschichte.
Jan beginnt eine Lehre als Elektromechaniker mit Abitur im VEB EAW Treptow. Er nimmt begierig die vom Westen herüberschwappende Musik auf.
Die Beziehung zwischen Erika und Bernhard endet. 1969 lernt Erika den Dolmetscher Albrecht Füg, einen gebürtigen Voigtländer, kennen. Der 1931 in Ölsnitz Geborene ist gerade geschieden. Er arbeitet als Dolmetscher im Staatsdienst und zieht bald darauf ins Häuschen ein. Mit ihm hält erstmals ein Pkw Einzug, ein roter Skoda.
Städtebauliche Veränderungen Anfang der 70er Jahre
1971 beendet Jan seine Lehre, erwirbt das Abitur. Im Herbst muss er zur NVA. Damit endet, vorerst, seine Anwesenheit auf dem Grundstück.
1972 heiraten Erika und Albrecht. Die jetzt dreiundvierzigjährige Erika trägt nun den Familiennamen Füg. Sie arbeitet weiterhin als Sportlehrerin.
Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre vollziehen sich in der Umgebung der Grumbkowstraße eingreifende bauliche Veränderungen. Zunächst wird der südliche Teil der Grumbkowstraße, zwischen Schlossallee und Blankenburger Straße, von Laubenkolonien und Privatgrundstücken auf der Westseite geräumt. Dort entstehen vierstöckige Betonbauten, die man noch heute bewundern kann. Das Wohnungsbauprogramm der DDR wird umgesetzt. Ostberlin soll attraktiver werden.
Die auf der Westseite der nördlichen Grumbkowstraße befindlichen Grundstücke werden enteignet und die Besitzer mit Ausgleichsgrundstücken, zum Beispiel in der Postsiedlung, entschädigt. Der gesamte Bereich wird abgerissen. Auf diesem Areal wird ein Fuhrpark der Volkspolizei, sowie Werkstätten für Kraftfahrzeuge errichtet. Dem Grundstück Grumbkowstraße 44 gegenüber entsteht, zum Leidwesen der Besitzer, ein dreistöckiges, unansehnliches Bürogebäude. Der Sonnenuntergang im Westen ist fortan durch den grauen Betonbau verdeckt. So ändern sich die Zeiten und die Sichten. Am nördlichen Ende der Grumbkowstraße errichtet das Volkseigene Papierkontor drei Lagerhallen. Morgens um sechs rattern fortan die Lieferfahrzeuge, Türen knallen, Gabelstapler quietschen. Doch der Lärm hält sich in Grenzen.
Die mittlere Grumbkowstraße erfährt gleichfalls einen Umbau. Der schmale „schwarze Weg“ wird zur Betonstraße. Die ansässige Gärtnerei wird verkauft. Dort entstehen Kleinbetriebe, Werkstätten und eine Anlage zum Herstellen von Flüssigbeton. Die gesamte Straße wird betoniert und an das städtische Versorgungsnetz angeschlossen. Mit der Ruhe ist es vorbei. Doch noch hält sich der städtische Lärm, dank des bescheidenen Verkehrsaufkommens, in Grenzen.
Eine lange hässliche graue Betonmauer „ziert“ die Westseite der Grumbkowstraße.
Baumaßnahmen auf dem Grundstück
Anfang der siebziger Jahre beginnen Albrecht und Erika Füg, beide um die vierzig, mit Umbauarbeiten am Haus. Links wird ein zwei Meter breiter Trakt angesetzt, in dem ein Flur und eine Kammer Platz finden. Rechts wird eine Garage angebaut, die durch eine betonierte Auffahrt mit der Straße verbunden wird. Das Aussehen des Grundstücks nimmt eine zeitgemäße, moderne Form an. Das Haus wird mit Rauputz versehen, der heute noch zu bewundern ist. Der Garten wird neu hergerichtet. Es werden Bäume gepflanzt. Einige von der vorhergehenden Generation gepflanzten Obstbäume tragen Früchte. Ein kleiner, verdienter, sozialistischer Wohlstand breitet sich aus.
Jan Bereska kehrt 1973, nach der Armeezeit, nicht nach Hause zurück. Er bezieht eine Wohnung im Prenzlauer Berg und nimmt 1974 ein Studium an der Hochschule für Film- und Fernsehen in Babelsberg auf.
1975 stirbt Charlotte Kubatz, erst einundsiebzig Jahre alt, infolge einer Schilddrüsenoperation.
1976 lernt Jan Brigitte Struzyk kennen. Die 1946 Geborene hat bereits zwei Ehen hinter sich, arbeitet als Lektorin im Aufbau-Verlag und ist Mutter zweier Töchter. Sie stammt aus Weimar. Die Zeiten sind turbulent. Es ist das Jahr der Ausweisung Wolf Biermanns, eines Willkürakts der DDR-Führung, dem eine Phase des politischen Aufbegehrens und der Resignation innerhalb der Intellektuellen der DDR folgt.
Jan Bereska arbeitet nach dem Studium von 1979 an beim VEB DEFA Studio für Spielfilme in Babelsberg als Regieassistent und später als Autor. Sein Wunsch, im Studio einen Film zu realisieren, bleibt unerfüllt.
1979 wird Sohn Andrej und 1982 Jan Henryk geboren. Beide Söhne tragen den Familiennamen der Mutter – Struzyk.
Eine neue Generation – die 80er Jahre
Von 1979 bis 1981 lebt Familie Struzyk/Bereska im Prenzlauer Berg in der Schwedter Straße 266 und von 1982 bis 1985 am Anton-Saefkow-Platz 13 in Lichtenberg. Brigitte ist als freischaffende Autorin tätig. Die Söhne Andrej und Jan Henryk, als auch die beiden älteren Schwestern Eike und Christiane, wachsen in einer sechsköpfigen Großfamilie auf. Andrej und Jan Henryk verbringen Zeit auf dem Grundstück in der Grumbkowstraße in der Obhut ihrer Eltern und Großeltern.
Im Garten der Grumbkowstraße finden alljährlich Familienfeiern und Zusammenkünfte statt. 1979 begeht Erika Füg ihren 50. Geburtstag, zu dem viele Gäste erscheinen, auch Henryk, ihr erster Mann.
Ende der 70er Jahren erwerben Albrecht und Erika Füg ein Grundstück in der Uckermark, in Warthe, das sie in den folgenden Jahren als Alterssitz ausbauen. Die Grumbkowstraße 44 wird als Aufenthaltsort über die Woche genutzt. Jan Bereska besucht, vor allem an den Wochenenden, gemeinsam mit seinen beiden Söhnen, das Grundstück.
In den 80er Jahren führt die Buslinie 33 durch die Straße und erleichtert die Verbindung in die Stadt.
1985 trennen sich Jan und Brigitte. Jan gibt seine Anstellung bei der DEFA auf und wird freiberuflich tätig. Er arbeitet kurzzeitig am Theater. Die Söhne Andrej und Jan Henryk leben bei der Mutter in der Wolfshagener Straße 56 in Pankow, der Kontakt mit dem Vater bleibt intensiv.
Jan Bereska wohnt in der Schönfließer Straße 2 im Prenzlauer Berg. 1983 überschreibt ihm seine Mutter das Grundstück in der Grumbkowstraße. Damit übernimmt er in vierter Generation Verantwortung für das Anwesen.
Die 80er Jahre sind eine Zeit der gesellschaftlichen Stagnation und Lähmung in der DDR. Die von der sowjetischen Führung Mitte des Jahrzehnts herausgegebenen Losungen von „Perestroika“ und „Glasnost“ werden von der DDR-Führung ignoriert. Auch wirtschaftlich gerät das Model des Staatssozialismus in Schieflage. Die Volkskammerwahl 1989 und die damit verbundenen Fälschungen und anschließenden Demonstrationen, als auch die Flucht hunderttausender DDR-Bürger in westdeutsche Botschaften, läuten das Ende der DDR ein. Eine Zeitenwende steht bevor. Auch für das Grundstück.
Die vereinte Stadt
Erika Füg feiert am 9. Juli 1989 ihren 60. Geburtstag in großer Runde auf dem Grundstück und tritt nach beinahe vierzigjähriger Dienstzeit als Lehrerin in den verdienten Ruhestand. Einen besseren Zeitpunkt für den Renteneintritt hätte sie sich nicht aussuchen können. Partner Albrecht, seit einigen Jahren freiberuflich als Dolmetscher tätig, und sie geben den Wohnort Grumbkowstraße auf und siedeln in den kleinen Ort Warthe in der Uckermark über. Jan Bereska, inzwischen achtunddreißig Jahre alt und freiberuflich als Autor tätig, zieht im August 1989 in das Häuschen ein.
Der Neubewohner weiß nach den unruhigen Jahren in der Stadt, die Ruhe des Ortes, das Grün, die kleine Freiheit eines eigenen Gartens, zu schätzen – das morgendliche Singen der Amsel, den Sonnenaufgang, die relativ frische Luft, den Gang durch den Garten, die damit verbundenen Aktivitäten, die er auf einem niedrigen Niveau hält.
Am 9. November 1989 fällt die Mauer. Die jahrzehntelange Trennung Berlins und Gesamtdeutschlands findet ihr unerwartetes Ende
Jan Bereska arbeitet als Autor und engagiert sich nach der Grenzöffnung in verschiedenen kulturellen und sozialen Projekten. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD am 3. Oktober 1990 müssen etliche kulturelle Institutionen der DDR ihren Betrieb einstellen, berufliche Kontakte brechen zusammen. 1992 meldet sich Jan arbeitslos. Bald darauf erhält er eine ABM-Stelle.
Die Auswirkungen des vereinten Deutschlands – positiv, wie negativ – sind auch in der Grumbkowstraße 44 zu spüren. Der zunehmende Individual-, aber auch Lastverkehr und seine negativen Folgen nehmen zu. Pkw, Busse, Lastwagen erschüttern die Betonstraße und die anliegenden Häuser Tag und Nacht. Der Lärm macht den Anwohnern zu schaffen.
1991 verfassen, auf Anregung von Jan Bereska und Herrn Karste, Grumbkowstr. 26, eine Reihe von Anwohner, eine Protestnote an das Pankower Bezirksamt. Sie fordern Ausbesserungsarbeiten an der Straße, eine Tempo 30 Zone und eine Baumbepflanzung zu beiden Seiten. Nur die Bepflanzung mit Bäumen erfolgt. Die anderen Vorschläge werden abgelehnt, lediglich einige kleine Reparaturarbeiten erfolgen in den kommenden Jahren. Immerhin. Doch Lärm und Erschütterungen durch den Straßenverkehr nehmen in den kommenden Jahren weiter zu.
Die Deutsche Volkspolizei und die Nationale Volksarmee haben ausgedient, der Standtort Grumbkowstraße und Buchholzer Straße werden aufgegeben und stehen viele Jahre leer. Dann siedeln sich kleine Firmen auf dem Gelände an.
1995 errichtet gegen den Protest zahlreicher Anwohner die METRO einen großen Verkaufskomplex am nördlichen Ende der Grumbkowstraße. Damit nimmt der Verkehr weiter zu. Die Straße wird zu einer Durchgangsstraße. Die Zeiten, da Kinder auf ihr spielten, sind vorbei. Auch die Luft wird schlechter.
Ende der 90er Jahre baut die Firma Siemens an die Stelle des ehemaligen Papierkontors ein Verkaufscenter, das dann von anderen Firmen genutzt wird. Zum Glück ist es ein ruhiger Standort. Das gesamte Gebiet gilt als Mischgebiet, was dazu führt, dass die Grundstückspreise fallen. In den Zweitausender Jahren steigen sie.
Jan Bereska arbeitet als Autor. Doch seine Stoffe finden keinen Anklang. 1996 dreht er einen Dokumentarfilm über seine Künstlerfreunde Peter Herrmann, Hans Scheib und Reinhardt Stangl.
Die Söhne Andrej und Jan Henryk, inzwischen siebzehn und fünfzehn Jahre alt, besuchen die Oberschule und genießen die Vorteile des vereinten Deutschlands, zum Beispiel beim Reisen. An manchen Wochenenden besuchen sie den Vater. Gemeinsame Reisen, auch ins westliche Ausland, werden unternommen.
1999 legt Andrej, zwanzigjährig, das Abitur am Rosa-Luxemburg-Gymnasium in der Kissingenstraße ab. Jan Henryk besucht das Berta von Suttner Gymnasium, dann die Friedrich List Oberschule.
Ein Jahrhundert, als auch ein Jahrtausend, gehen zu Ende. Die Grumbkowstraße liegt am 31. Dezember 1999 in dichtem Nebel, es ist bitterkalt, als in der Silvesternacht die Anwohner ihre Böller und Raketen zünden, um das neue Jahrtausend zu begrüßen.
2001 legt Jan Henryk am Friedrich-List-Gymnasium das Abitur ab. Bruder Andrej leistet Zivildienst in einem Berliner Kindergarten und nimmt 2002 ein Psychologiestudium an der Technischen Universität auf. Jan Henryk verrichtet seinen Zivildienst in einer Jugendherberge auf dem Darß, leistet anschließend ein freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege in Quedlinburg. Dann beginnt er eine Zimmererlehre in Berlin, die er 2006 abschließt. 2007 geht er auf eine vierjährige Wanderschaft. Bruder Andrej setzt 2007 nach einen halbjährigen Auslandspraktikum in Peru sein Studium für ein Jahr in Teneriffa fort.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends lebt Jan Bereska allein auf dem Grundstück. Räumlich stellt dies eine komfortable Lösung dar. Der Single erfreut sich des Gartens, der zeitweiligen Ruhe, wenn in den Abendstunden und am Sonntag der Verkehr nachlässt. Er schreibt für das Fernsehen, arbeitet als Regisseur und Assistent an Theatern, ist dann wieder arbeitslos.
Da das Häuschen seit den siebziger Jahren keine bauliche Veränderung erfahren hat, entschließt er sich 2003 und 2004 zu einigen baulichen Veränderungen. Die Küche wird vergrößert, das Bad in die unbenutzte Kammer verlegt. Das gesamte Haus erhält eine Gasheizung und 2006 einen neuen Dachbelag. Auch Keller und Kellertreppe werden saniert.
Der inzwischen Sechsundfünfzigjährige genießt ein ruhiges Leben auf dem Grundstück. Er weiß den Garten zu schätzen. Er kann jederzeit ins Freie, an die „frische Luft“ treten. 2006 entsteht, als Danksagung, das Gedicht über Anna Seifert, die Erstbesiedlerin der Grumbkowstraße 44:
Urgroßmutter Anna Emilie Alwine Seifert
Geborene Goldmann
lebte in diesem Haus
Sie kam aus dem Baruther Land
in die aufstrebende Großstadt
Diesen Garten grub sie
Diesen Baum pflanzte sie
Neunzehnhunderteinundzwanzig
Ihr Atem haftet an den Wänden
Sie telefonierte mit
ihrem Schwiegersohn in Königsberg
Mama die Russen kommen
ich rufe später zurück
Sie winkte dem Kaiser
verabschiedete die Republik
fluchte den Führer
Sie zog ihre Kinder
Gertrude und Charlotte
scharf gezogener Mittelscheitel
zugeknöpftes Kostüm
durch die verbrannte Zeit
Der Dammriss wurde
per Hand zugenäht
eine dauernde Wunde
Es blicken ihre klugen Auge
Es streicht ihre knochige Hand
Hier nahm Otto ihr Mann
neunzehnhundertdreiunddreißig
sich das Leben
An einem Balken hing sein Körper
Auf einem Zettel stand
Ich habe Schmerzen
Dort in der Ecke schlug
Die Bombe ein
ein Kollateralschaden
Der Baum neigt sich unter
der Last der Jahre
Ich höre ihr
märkisches Gebrumm
folge ihrem müden Schritt
Im Herbst nimmt si
die süßen Äpfel vom Baum
Im Frühling
steht sie krumm im Beet
Sie sieht
nach dem Rechten
in diesen windigen Zeiten
Im Jahr 2005 stirbt Henryk Bereska, der sich in seinem neunundsiebzigjährigen Leben einen Namen als Übersetzer und Lyriker gemacht hatte. Er wird in Kolberg beerdigt.
Jan arbeitet nach Ausflügen ans Theater als Autor und bringt 2007 den Gedichtband „Schwelgen auf verlorenem Posten“ heraus.
Der Kontakt zu seinen Söhnen ist eng, der zu Brigitte freundschaftlich.
2008 wird die alte Betondecke der Straße entfernt und durch eine neue Teerdecke ersetzt. Damit fallen die erheblichen Vibrationen des Hauses weg. Doch der Lärm der Motoren, die Abgase der Lkws und Pkws bleiben eine ständige Belastung.
Noch sind die beiden Söhne Andrej und Jan Henryk, inzwischen Ende zwanzig, auf der Suche nach dem eigenen Lebensentwurf. Während Andrej studiert, befindet sich Jan Henryk auf Wanderschaft.
Die Gegend, die Straße, ist nicht mehr das, was sie einmal war. Neue Häuser, neue Industrieanlagen, unzählige Pkws, Krach, Gestank prägen das Bild, eine hässliche Durchfahrt, für die sich niemand interessiert. Eine erholsame Gartennutzung ist nur im Bereich hinter dem Haus möglich, auf der von morgens bis abends der Verkehr donnert. Die Gegend ist ohne Gesicht, der Verkehr diktiert das Leben. Alles nicht mehr vergleichbar mit den idyllischen Zeiten vor 100 Jahren.
Beuthstraße
2009 stirbt ein alter Freund und Studienkollege von Erika, Gerhard Fischbach, mit dem Jan Bereska in den letzten Jahren freundschaftlich verbunden war. Da er keine Nachkommen hat, vererbt er sein Grundstück in der Beuthstraße an Jan.
Jan steht vor der Aufgabe, das Grundstück zu beräumen und für eine weitere Nutzung zu sorgen. Ende des Jahres ziehen zwei Mieterinnen ein. Doch nach einem Jahr zieht eine Mieterin aus, und Jan muss sich um eine Neuvermietung kümmern. Diese führt zu Streitigkeiten zwischen den Parteien, sodass eine Partei 2013 auszieht, und Jan die andere Partei mit dem Argument Eigenbedarf auffordert, ausziehen. Andrej lehnt das Angebot, das Haus zu übernehmen, ab, sodass Jan Henryk 2014 gemeinsam mit seiner Frau und Tochter Mariajay dort einzieht. 2015 werden Jimmy und 2020 Jayke geboren.
Brigitte Struzyk zieht mit ihrem Lebensgefährten Dieter Kerschek ins Obergeschoss. 2018 überschreibt Jan Bereska seinem Sohn Jan Henryk das Grundstück.
Andrej und Marlene
2009 begegnen sich Andrej und Marlene Müller, 2010 kommt Sohn Arvid Leonard Müller auf die Welt.
Die junge Familie zieht nach Neukölln und erlebt eine glückliche und angespannte Zeit.
Alles scheint gut. Doch dann reißt das Schicksal eine schwere und bleibende Wunde in die Familie. Andrej nimmt sich am 21.2.2016 das Leben, nachdem am 17.2. seine Tochter Ilva Emilia Müller geboren wurde. Eine schreckliche Tragödie für die Kinder, für Marlene, die Familie. Eine bittere Zeit der Trauer, der Tränen. Ein großer Verlust.
Brigitte Struzyk ist zu dem Zeitpunkt berentet, Jan Bereska wird in jenem schrecklichen Frühjahr 2016 berentet. Doch jetzt kann er nichts mit seiner „Freiheit“ anfangen. Die Familie trauert, leidet, rückt zusammen, versucht, sich gegenseitig Halt zu geben, unterstützt Marlene und die beiden Kinder.
Jan Bereska nimmt seine siebenundachtzigjährige an Demenz erkrankte Mutter Erika Füg aus dem Heim zu sich und betreut und versorgt sie bis zu ihrem Tod. Da ihr Mann Albrecht 2014 verstarb, steht das Grundstück in Warthe seitdem frei. Anetta Füg, die Tochter Albrechts aus erster Ehe, und Jan kümmern sich alternierend um das Anwesen. Bis 2020 fährt Jan alle vierzehn Tage gemeinsam mit Erika nach Warthe, verbringt dort vierzehn Tage und fährt dann wieder nach Berlin, um in der Grumbkowstraße nach dem Rechten zu sehen.
Im Sommer 2020 endet das Pendeln zwischen Stadt und Land. Jan überschreibt das Grundstück in der Grumbkowstraße seinen beiden Enkeln Arvid und Ilva Müller und zieht mit seiner Mutter nach Warthe. Eine neue Generation, die fünfte, trägt nun die Verantwortung für das Grundstück, das die Vorfahren erworben, erbaut, gepflegt und bewahrt haben: Anna und Otto Seifert, Charlotte Kubatz, Erika und Albrecht Füg und Jan Bereska.
Ich schließe mit dem Dank an die vielen, wunderbaren Menschen, die vor mir auf dem Grundstück Grumbkowstraße tätig waren, die Spuren hinterließen, Eindrücke, Ansichten, die hier schufen und atmeten.
Denken wir gelegentlich an sie, an ihre Wünsche, Probleme und hoffen, dass die nächsten Generationen glücklich und zufrieden an diesem Ort leben werden, ohne Krieg, ohne Hass, ohne Hunger – in Frieden, Eintracht, Zuversicht. Hoffen wir es.
Jan Bereska,
November 2021
Die Ahnen
Die Seiferts stammen väterlicherseits aus Sachsen, den Orten Braunsdorf und Chemnitz, mütterlicherseits aus Bernsdorf, Dümde, Gottsdorf.
[table id=1 /]Die Kubatz-Familie stammt aus Krossen an der Oder, im heutigen Polen. Die Männer waren Schiffer. Der Ort heißt Krosno Odrzanskie. Mütterlicherseits kam diese Familie aus Schlagenthin bei Genthin.
[table id=2 /]Die Bereska´s
kommen aus Rosdzin, einem Stadtteil von Katowice. Die Stadt gehört zu Oberschlesien.
Seit ca. 1770 wurde Polen zwischen Rußland, Österreich und Preußen aufgeteilt. OS gehörte ab 1871 zum Deutschen Reich. Deswegen die deutschen Namen in der Familie.
Nach dem 1. Weltkrieg wurde Polen wieder ein eigener Nationalstaat. Die neue deutsch-polnische Grenze war nicht weit entfernt von Katowice.
Mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen wurde Oberschlesien erneut deutsch. Nach 1945 wieder polnisch, unter sowjetischer Vorherrschaft. Eine sehr komplizierte Geschichte.